Hape Schneider @

PALIMPSEST
Wo heute Lastwagenfahrer aus Osteuropa auf Ladung warten, war früher ein Verbindungsbecken vom Segelschiffhafen zum Moldauhafen. In den 60er Jahren, als durch die zunehmende Containerschifffahrt mehr große, zusammenhängende Hafenflächen benötigt wurden, wurde der Segelschiffhafen zugeschüttet.
Mäandrierende, farbige Linienbündel auf dem Asphalt folgen nun den alten Wasserkanten des Verbindungsbeckens. Sie zeigen, wie veränderlich und künstlich die Hafenbecken sind – gleich mehrfach wurde das Ufer des Kleinen Grasbrook in den letzten 150 Jahren verschoben.
Jeden Tag werden die Linienbündel hundertfach von Lastwagen auf ihrem Weg zum Umschlagterminal am O’swaldkai überfahren und von deren Reifenabrieb neu bedruckt. So kreuzen Lkw-Fahrer über alle Zeitgrenzen hinweg das alte Ufer der Elbe.
Der Begriff »Palimpsest« ist altgriechisch und bedeutet »wieder abgeschabt«. Der Duden bezeichnet es als ein von Neuem beschriebenes Schriftstück aus Pergament, von dem ursprünglicher Text mehrfach wieder abgewaschen wurde, und das danach neu zu beschreiben war.

Zeichnung, Foto: Hape Schneider